Wiesbaden - wie im Märchen

WIESBADEN . Was schenkt man, wenn man zum 1000. Geburtstag der großen Altmeisterin der Erzählkunst eingeladen ist und außerdem selbst nicht minder berühmt in eben diesem Genre ist? Man erzählt eben einfach auch, schreibt die Geschichten auf und macht eine Festschrift daraus. Das dachten sich zumindest Jacob und Wilhelm Grimm, Hans Christian Andersen und Wilhelm Hauff, als sie ihre Einladungen zum Geburtstagsfest der Scheherazade in den hängenden Gärten der Semiramis vorfanden. Und sich flugs trafen, um die Geschenkefrage zu lösen.
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"In-Treff" im 20. Jahrhundert
Der Ort ihres Treffens ist gleichzeitig Titel des neuesten Buchs von Christian Pfarr, das im Wiesbadener Presseclub in einer von Viola Bolduan, Feuilleton-Chefin dieser Zeitung, moderierten Lesung präsentiert wurde: "Café Orient", 1899 im "maurischen Stil" mit Halbmond gekrönten Kuppeln Unter den Eichen erbaut, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, was man heute als "In-Treff" bezeichnen würde. Was Rang und Namen hatte in Wiesbaden traf sich im Café Orient, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg bergab ging - in den 1960er Jahren wurde der exotische Bau abgerissen. Heute existiert das Café Orient nur noch auf Postkarten, in der Erinnerung und in Christian Pfarrs Buch. Der Autor las die Rahmenhandlung selbst, ließ die vier berühmten Märchendichter mit ihren durchaus legendären Animositäten wiedererstehen und sich ihre eigens für das Geburtstagsfest erdachten orientalischen Märchen erzählen.
Die jeder natürlich in seinem eigenen, unverwechselbaren Stil verfasste: Wie die "Geschichte von der Wüste, der Stadt und dem gläsernen Garten", die von Schauspieler Klaus Krückemeyer vorgetragen wurde - im orientalischen Gewand und mit orientalischen Requisiten wie Öllämpchen und Krummsäbel vor sich auf dem Tisch. Flüsternd, beschwörend, voll Dramatik las er die Geschichte von den unzufriedenen Untertanen, dem Sultan, dem Scheich und dem Emir, die den weisen Derwisch um Rat fragen, wie denn Frieden und Ruhe wieder in ihrem Reich einziehen könnten.
Fantasie und Verzauberung
"Dieses Märchen hat Christian Pfarr Jacob Grimm in den Mund gelegt - die Botschaft ist belehrend, ganz typisch für den älteren der Brüder Grimm, den Philologen und Politiker Jacob Grimm", so Viola Bolduan. Der ist übrigens 1863, vor 150 Jahren, gestorben, weshalb auch 2013 als "Grimm-Jahr" gilt - genau passend also als Erscheinungsjahr für "Café Orient".
Was braucht ein Autor eigentlich, um Märchen schreiben zu können? "Ein gewisses Maß an Fantasie und auch Naivität, und er muss ein wenig poetische Verzauberung über den Text legen", so Christian Pfarr. Und so ist ein orientalisches Märchenbuch mit einer ebenso märchenhaften Wiesbadener Rahmenhandlung entstanden. Zum Schluss ist die Festschrift fertig, man verabredet das Wiedersehen auf dem Geburtstagsfest, schnürt die Siebenmeilenstiefel oder begibt sich an Bord eines Geisterschiffs. Und das Café Orient? Das löst sich als Luftschloss im Nebel eines neu heraufdämmernden Tages auf.

Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 19.12.2013, Seite 32