Ein Denkmal für Karlchen

WIESBADEN. Einmal dem Krimischreiben entrinnen. Dieses Ziel verfolgten 15 Mitglieder des Wiesbadener Autoren-Stammtischs "Dostojewskis Erben", als sie den Sammelband "Wiesbaden im Sommer" konzipierten. Vier der Beteiligten stellten das 150-seitige, im Kommunal- und Schul-Verlag erschienene Buch nun in der Buchhandlung Hugendubel vor.

Richard Lifka etwa setzt in dem Buch dem Schiersteiner Original Karlchen ein literarisches Denkmal. Karlchen war jahrelang Schiersteins einziger Obdachloser. Jeder im Ort kannte ihn. Er war dafür bekannt, zu fluchen wie "ein Rohrspatz", vor allem dann, wenn ihm die Kinder mal wieder seinen Hut vom Kopf geschlagen hatten. Geradezu legendär war auch Karlchens Liebe zu Hafenfest und Karneval: Mit einem Bollerwagen lief er bei allen Umzügen mit. Und beim Hafenfest half er den Schaustellern beim Aufbau: "In jener Zeit war er so glücklich, dass er sogar das Fluchen vergaß."

Während Lifka in dieser Erzählung Lokalkolorit in seiner besten Form versprüht, bleibt Wiesbaden in den übrigen drei vorgetragenen Geschichten nur Fassade. Sie könnten auch in jeder anderen Stadt spielen. Was aber freilich nichts über die Qualität der Geschichten aussagt.

Kriminale-Preisträgerin Christiane Geldmacher zum Beispiel steuerte eine erfrischend skurrile Kurzgeschichte zu "Wiesbaden im Sommer" bei. Nicht genug, dass darin Männer Kinder kriegen können. Nein, ihr Hauptdarsteller Gerald hat in seiner Wohnung auch eine Rutsche, mit der er vor ungebetenen Gästen Reißaus nimmt. Seiner Freundin Justina will er deshalb einen Mikrochip implantieren, damit seine Alarmanlage künftig nicht mehr anschlägt, wenn Justina wieder mal überraschend vor der Tür steht. Schließlich gehört Justina nicht zu den Personen, vor denen er per Rutschpartie fliehen will. Mit ihr nach Alaska reisen will er freilich auch nicht und fällt stattdessen in einen Winterschlaf - bis Justina im Frühjahr von ihrer Reise zurückkehrt.

Blind date im Museum

Dass man dem Krimischreiben entrinnen und beim Erzählen trotzdem Spannung aufbauen kann, das bewies indes Susanne Kronenberg. In ihrer Kurzgeschichte verfolgen wir Software-Entwickler Micha und Kunsthistorikerin Jula auf ihrem Blind date im Wiesbadener Museum. In der Lesung ließ Kronenberg dann tatsächlich offen, ob die beiden Mittvierziger sich im Gewühl der Ausstellungseröffnungen finden. "Wer das herausfinden will, sollte sich das Buch kaufen", meinte Kronenberg geschäftstüchtig.

Ebenfalls eine Liebesgeschichte steuerte Bernd Köstering bei. Der Autor der Goethe-Krimis, der eigentlich in Offenbach zu Hause ist, lässt im Westend unter der Überschrift "Zeitgerechtes Glücklichsein" ebenfalls zwei völlig unterschiedliche Charaktere aufeinander treffen: nämlich einen Speditionskaufmann und die Besitzerin eines Raucherclubs.

Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 31.08.2015, Seite 19
Von Sven Rindfleisch